Ein Fluss, seine Landschaft, seine Menschen. Der Fluss ist die Oder, die Landschaft das Oderbruch, die Menschen ein Melting Pot unterschiedlichster Herkünfte. Mit “Alles im Flus” beobachten wir die Bewegung von Fluss, Landschaft und Menschen und entwickeln daraus zusammen mit MS Schrittmacher und lokalen Interviewpartner*innen vier Audiowalks und einen Audioride fürs Fahrrad. Die Frage, die uns dabei beschäftigt: auf welche Weise geraten ökologische und ökonomische Interessen rund um den Fluss seit Jahrhunderten immer wieder in Konflikt? Ein Erfahrungsbericht aus unserer aktuellen Arbeit.
Die Vorgeschichte
Als ich im Sommer 2022 von meinem Schreibtisch in Hamburg aus an „398 Billionen 236 Milliarden 608 Millionen“ arbeite, kenne ich das Oderbruch nur aus Videos, die Hartmut Schrewe vom Performancekollektiv MS Schrittmacher mir geschickt hat. Nachdem wir uns mögliche Routen im kleinen Oderörtchen Groß Neuendorf zunächst auf Google Maps angesehen haben und Hartmut mir verschiedene Orte detailliert am Telefon beschrieben hat, geht er für mich die ausgewählte Route mit dem Handy in der Hand ab. Dabei beschreibt er, was er sieht. Anhand dieses Videos beginne ich im Juli, den Audiowalk zu verfassen.
Dann aber bricht eine Katastrophe über die Oder herein: Anfang August treiben plötzlich tonnenweise tote Fische auf dem Fluss. Was das Fischsterben ausgelöst hat, ist zunächst unklar. Hartmut und ich sind uns einig: wir können das Projekt nicht wie geplant umsetzen. Zu tief ist der Einschnitt, zu sehr haben sich Landschaft und Lebensraum verändert, auch wenn schon nach wenigen Wochen nichts mehr davon sichtbar ist. „398 Billionen 236 Milliarden 608 Millionen“ wird zum Tauchgang durch Groß Neuendorf und eine Liebeserklärung an die Oder, die die jüngsten Ereignisse dabei nicht vergisst. Die Premiere findet im September 2022 bei Bruchstücke Oderbruch statt.
Erst nach der Veröffentlichung entdecken Wissenschaftler*innen die Ursache für die Katastrophe: durch stetige Einleitungen von Abwässern aus dem Bergbau ist die Oder versalzt. Als es im Sommer heiß wird und die Pegelstände sinken, steigt die Salzkonzentration weiter, bis der Fluss schließlich optimale Lebensbedingungen für die Goldalge bietet. Der Einzeller, nur unter dem Mikroskop erkennbar, vermehrt sich exponentiell. Seine giftige Blüte erstickt das übrige Leben im Fluss. Betroffen sind nicht nur Fische, sondern auch zahlreiche andere Flussbewohner wie zum Beispiel Krebse und Muscheln, letztere ein wichtiges natürliches Filtersystem des Flusses, das über Jahrzehnte gewachsen und innerhalb weniger Tage verendet ist.
Recherche und Konzept
Betroffen von den Ereignissen sprechen Hartmut und Martin von MS Schrittmacher uns an, ob wir uns in einem weiteren gemeinsamen Projekt tiefgreifender mit dem Ökosystem der Oder beschäftigen möchten. Sie stellen einen Antrag bei der Prozessförderung des Fonds Darstellende Künste, und als Ende 2022 die Zusage kommt, ist klar, dass Fabian und ich diesmal selbst vor Ort recherchieren wollen.
Im Januar 2023 starten wir aber zunächst mit einer weiteren Onlinerecherche: wir wählen mögliche Orte und sammeln Zeitungsartikel, Forschungsergebnisse und historische Dokumente zur Oder. Im März treffen wir uns dann zum ersten Mal für fünf Tage im Oderbruch. Auf dem Plan stehen Ortserkundungen der vorab gemeinsam ausgewählten Orte sowie der Gedenkstätte Seelower Höhen und die Weiterarbeit am Konzept. Zwei volle Tage sind wir bei Eiseskälte zwischen Kienitz und Neurüdnitz am Ufer der Oder unterwegs, nehmen Fotos und Videos auf und wählen am Ende vier Orte, an denen wir mit kurzen Audiowalks unterschiedliche historische Zeiträume erfahrbar machen wollen – verbunden von einem Audioride fürs Fahrrad.
Als verbindendes Thema wählen wir den Konflikt zwischen wirtschaftlichen und ökologischen Interessen in Bezug auf die Oder. Zusammen erkunden wir, wie sich dieser Konflikt im Oderbruch über die Jahrhunderte in die Landschaft eingeschrieben hat. Die Oder ist nicht nur Heimat für Fische, Wasservögel, Biber und andere Tiere, sie speist mit ihrem Wasser auch die Fließe des Oderbruchs, die die umliegenden Felder bewässern und die Landschaft durch die landwirtschaftliche Nutzung immer wieder in ihrem Erscheinungsbild verändern. Ihr Wasser fließt zudem in die Alte Oder, die an eine Zeit erinnert, als das Oderbruch noch keine durch den Menschen trockengelegte Kulturlandschaft, sondern ein großes Binnendelta war, eine Moorlandschaft, die von den sich windenden Oderarmen bei jedem Hochwasser neu geordnet wurde.
Der Fluss als Zeitstrahl
Da der Konflikt zwischen Ökologie und Ökonomie nicht neu ist, sondern bis zur Besiedlung des Oderbruchs im 18. Jahrhundert zurückreicht, entsteht die Idee, die Oder als Zeitstrahl zu denken. Was, wenn jedem Ort zugleich ein fester Zeitpunkt innerhalb der Geschichte der Oder zugewiesen würde und der Ride entlang der Oder damit einer Zeitreise gleichkäme, auf der man das wechselseitige Verhältnis von Mensch und Ökosystem Oder erkunden könnte? Wir übersetzen das räumliche Verhältnis der gewählten Orte zueinander in eine chronologische zeitliche Abfolge: je weiter Richtung Mündung, umso weiter Richtung Gegenwart und Zukunft bewegen sich die Zuhörer*innen.
Zurück in Hamburg schreibe ich erste Textskizzen und nehme sie auf, damit wir sie bei unserem zweiten Vor-Ort-Treffen im April direkt testen können. In diesen Skizzen kommt zunächst einmal der Fluss selbst zu Wort und spricht über die Veränderungen, denen er durch den Menschen ausgesetzt ist.
Die Interviews
Nach dem Testen beginnen wir noch am Abend des ersten Tages mit ersten Interviews: wir sprechen mit Bewohner*innen und Expert*innen, darunter aus den Bereichen Biologie und Artenvielfalt, Melioration und Wasseringenieurwesen, Agrarwirtschaft und Naturschutz. In insgesamt 9 Interviews befragen Fabian und ich lokale Akteur*innen einerseits zu historischen Themen (Begradigung der Oder, Trockenlegung des Oderbruchs, Sommerfrische in den 1920er Jahren) und andererseits zu aktuellen Entwicklungen (Oderausbau, Artenvielfalt, Fischsterben 2022, Umweltbewegung auf deutscher und polnischer Seite). Dabei interessieren wir uns für unterschiedliche Perspektiven auf Fluss, Landschaft und Mensch. Wie verbunden fühlen sich die Bewohner*innen der Region mit dem Fluss und der Landschaft? Welchen Blick haben Landwirt*innen auf das Oderbruch, wie sehen Naturschützer*innen die Kulturlandschaft? Welche Geschichten, Tätigkeiten und Orte verbinden die Menschen mit der Landschaft und dem Fluss?
Mit uns vor Ort ist diesmal neben MS Schrittmacher auch Sounddesigner Rupert Jaud. Er nimmt binaurale Field Recordings entlang der Routen auf.
Nächste Schritte
Im Mai machen wir uns an den Rohschnitt der Interviews und arbeiten sowohl die Testergebnisse als auch Ausschnitte aus den Interviews in die Skripte ein. Die Entscheidung, statt eines Walks vier kürzere Walks zu entwickeln, stellt sich als fruchtbar heraus: Das komplexe Thema Ökonomie vs. Ökologie kann dadurch in klar abgesteckten Unterthemen verhandelt werden. Eine Zeitreise ermöglicht es, dabei auch die historische Dimension und die Verantwortung für die Zukunft der Oder zu thematisieren: der vierte Walk ist in der Zukunft verortet. Da diese Zukunft stark von aktuellen politischen Entscheidungen zu Oderausbau und Abwassern abhängt, stellt sich die Gestaltung dieses letzten Walks als besondere Herausforderung dar.
Das ist auch der Grund dafür, dass wir aktuell weiter auf die Premiere von “Alles im Fluss” warten: Sowohl 2023 als auch 2024 besteht die berechtigte Sorge, dass sich die Oderkatastrophe vom August 2022 wiederholen könnte. Wieder erwärmt sich der Fluss deutlich und es kommt zur Ausbreitung der Goldalge und Fischsterben. Die Zukunft der Oder ist – und bleibt bis auf Weiteres – ungewiss. 2025 wollen wir uns dennoch für eine finale Version von “Alles im Fluss” entscheiden und die vier Audiowalks und den sie verbindenden Audioride veröffentlichen.
“Alles im Fluss” wird gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR.