Seit 2023 stehen wir in engem Austausch mit dem schottischen XR-Theaterlabor Produced Moon und forschen gemeinsam an der Schnittstelle zwischen Audiowalk und Game. Über unsere ersten gemeinsamen Aktivitäten habe ich hier geschrieben. 2024 entwickeln wir in einem partizipativen Prozess mit Jugendlichen Hexagone, unser erstes immersives Audiogame.
Von der Schnitzeljagd zum Escape Game
Als wir Mel und Leo von Produced Moon im April 2024 in Glasgow besuchen, machen wir uns zunächst einmal ans Testen bestehender Rätsel und Spiele und entwickeln danach selbst welche.
Im Antrag heißt unser Projekt noch An Audio Hunt in Easterhouse, eine Audioschnitzeljagd also, aber in Glasgow merken wir schnell, dass das Format uns vor einige Schwierigkeiten stellt: Zum einen muss eine Schnitzeljagd nach jedem Durchgang wieder in die Ausgangsposition zurückversetzt werden und kann daher immer nur von einer Gruppe gleichzeitig gespielt werden. Zum anderen ist unser zweiter Besuch in Schottland für Mitte Oktober geplant, die Premiere Anfang November. Werden die Jugendlichen Lust haben, zu dieser Jahreszeit ein Spiel für draußen zu entwickeln und zu spielen? Die dritte große Frage lautet: Wie vereinbaren wir das konzentrierte Hören der Storyparts mit dem Wunsch der Spieler*innen, das Spiel möglichst schnell abzuschließen, um den Schatz zu finden?
Das Format Escape Game bietet demgegenüber den großen Vorteil, dass Geschichte und Rätsel stärker ineinander greifen: nur wer die Geschichte genau verfolgt, kann die Rätsel lösen und dadurch wiederum das nächste Kapitel freischalten. Die Auflösung am Ende findet ganz ohne materiellen Schatz auf Storyebene statt. Und: Das Spiel kann parallel von mehreren Gruppen, aber auch von Einzelpersonen gespielt werden und drinnen stattfinden, wo wir die Rätselstationen besser dauerhaft installieren können.
Der Rahmen


Im Spiel sollen Audiorätsel eine wichtige Rolle spielen, also sammeln wir Ideen, worum es darin gehen könnte. Erste Ideen sind: Rätsel, bei denen man Audiodateien schneller, langsamer oder rückwärts abspielen muss. Rätsel, in denen man anhand von Hintergrundgeräuschen in der Audioaufnahme einen Ort erkennen und finden muss. Und Rätsel, in denen man überprüfen soll, ob die im Audio wiedergegebenen Ereignisse so stattgefunden haben können, wie sie aufgezeichnet wurden.
Als Nächstes denken wir über Szenarien nach, um einen Rahmen für die Rätsel und eine Motivation für die Spieler*innen zu schaffen. Weil ein Großteil der Rätsel mit Audiomanipulation und der Überprüfung von Fakten zu tun hat, entscheiden wir, dass wir Fake News und Fact Checking in den Mittelpunkt des Spiels stellen wollen.
Außerdem sollen Geister eine wichtige Rolle spielen, weil wir Gemeinsamkeiten zwischen Geistergeschichten und Fake News entdecken, die wir weiter untersuchen wollen: beide arbeiten mit starken emotionalen Reizen wie Angst oder Empörung, beide basieren auf schwer überprüfbaren Behauptungen und Gerüchten und beide gewinnen an Bedeutung, je öfter sie erzählt oder geteilt werden. Und nicht zuletzt stellen beide die Frage, wie wir zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können.
Als Medium, über das die Geister Kontakt aufnehmen, wählen wir das Radio. Die eigentliche Geschichte wollen wir später mit den Jugendlichen zusammen entwickeln, doch dieser Rahmen gibt uns eine erste Richtung für die Entwicklung unserer Webanwendung vor, mit der Spieler*innen das Spiel später spielen können: Wir benötigen ein Audio Labor, in dem wir Tracks auf verschiedene Weise manipulieren können und ein digitales Radio, auf dem die Spieler*innen verschiedene Frequenzen einstellen können, um die Botschaften der Geister anzuhören. Nach der gemeinsamen Konzeptphase gehen wir in Hamburg und Glasgow an die Vorbereitung der nächsten Schritte.
Die Umsetzung


Im Projekt geht es nicht einfach darum, ein Spiel für Jugendliche zu entwickeln, sondern dieses Spiel gemeinsam mit Jugendlichen zu entwickeln. Zur Formatentwicklung gehört daher auch ein Workshopkonzept. Welche Arbeitsschritte braucht es, um das Spiel umzusetzen? Und wie können wir spielerisch dazu anleiten und den Jugendlichen möglichst große Gestaltungsfreiheit einräumen? Für die Umsetzung des Spiels braucht es Story und Rätsel, es braucht ein Drehbuch, eine Audioproduktion, Requisiten und nicht zuletzt eine App, mit der das Spiel gespielt werden kann.
Ganz am Anfang steht jedoch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Fake News und die Frage danach, wo die Teilnehmenden in ihrem Alltag mit Fehlinformationen in Kontakt kommen. Bald entsteht die Grundidee für die Geschichte, die erzählt werden soll. Die Geschichte setzt zum einen historisch bei einer lokalen Legende aus der Zeit der Hexenverfolgung an, zum anderen in der Gegenwart mit dem Verschwinden eines Influencers, der sich auf Kosten anderer inszeniert. Das Spiel entsteht für das kulturelle Zentrum Platform, wo es neben einem Café, Workshopräumen und einem Theater auch ein Schwimmbad und eine Bibliothek gibt. Welche dieser Orte eignen sich als Schauplätze? Was geschieht wo und wie können wir an diesen Orten dauerhaft Rätsel installieren? Wie leiten wir die Spieler*innen von einem Schauplatz zum nächten? Die Jugendlichen entwickeln ein Drehbuch, das verschiedene Audioformate miteinander verbindet: Sprachnachrichten, einen Podcast, Hörspielszenen und die Tonspur eines Filmtrailers. Parallel dazu erarbeiten sie Rätsel, die zum einen zum jeweiligen Ort passen und zum anderen Teil der Story sind. Die Rätsel müssen immer wieder getestet und angepasst werden, damit sie eindeutig sind und der Schwierigkeitsgrad stimmt. Dafür braucht es immer wieder unbeteiligte Tester*innen, die die Lösung noch nicht kennen.
Als schließlich alles steht, geht es an die Audioproduktion. Wer übernimmt welche Rolle? Wie funktioniert das mit dem Einsprechen? Und wie produzieren wir gruselige Soundeffekte? An zwei Tagen nutzen wir das Tonstudio von Platform, um gemeinsam alle Szenen und Soundeffekte aufzunehmen.
Parallel zur Entwicklung des Spiels steht die technische Entwicklung eines Webplayers an, mit dem der Audiohaunt gespielt werden kann. Gemeinsam mit Produced Moon überlegen wir, wie wir die Spieler*innen durch das Spiel führen: Wir entwerfen User Stories, Entscheidungsbäume, Flowcharts, Papierprototypen und treffen Entscheidungen: Auf welchem Screen passiert was? Wie navigieren die Spieler*innen zwischen Audio Lab, Radio und Rätselseite? An welcher Stelle braucht es welche Buttons oder Hinweise? Wie wissen die Spieler*innen, wo im Spiel sie sich gerade befinden? Neben der Arbeit an der Oberfläche passiert auch viel im Hintergrund: welche Information wird wie und wann in welcher Datenbank gespeichert? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein neues Rätsel erscheint? Wie funktioniert das Audio Lab genau, damit jeder Track auch langsamer, schneller oder rückwärts abgespielt werden kann?
Das Ergebnis: Hexagone!


Am 09. November ist es dann soweit: Hexagone feiert Premiere! Der Audio Haunt erzählt vordergründig die Geschichte von Benet, Filmemacher und Influencer, der im Kulturzentrum Platform die Premiere seiner Horror-Dokumentation The defeat of the devil witch feiert und kurz vor dem Q&A spurlos verschwindet. Die Spieler*innen schlüpfen in die Rolle des Junior-PR-Teams, das sich vor Ort auf die Suche nach Benet macht, denn die Chefin ist sich sicher: ein PR-Gag war das nicht. Als sich über Radio dann noch eine weitere Stimme in die Spurensuche einmischt, wird es gruselig: Kann es sein, dass die angebliche Hexe, die in Benets Film vom tapferen Helden besiegt wird, als Geist unter den Gästen weilt? Und dass sie eine eigene Version der Ereignisse, die zu ihrem Tod führten, erzählen will?
Die Premiere ist ein voller Erfolg und Hexagone wird vom Granite Noir Festival in die Aberdeen Music Hall eingeladen, wo wir im Februar 2025 unser erstes internationales Gastspiel haben. Um das Spiel auf den neuen Ort anzupassen, erarbeitet Produced Moon zusammen mit Schüler*innen aus Aberdeen neue ortsspezifische Rätsel.
Beteiligte

Hexagone wurde entworfen, geschrieben und umgesetzt von Megan Baxter, Jessica Bradley, Awais Iqbal, Saffron Jezewski, Anastasia Joyce, Fay Jurriaanse, JJ McGonnegal, Kyle Nicholson, Logan Quail, Darcey-Leigh Sheppard, Lennon Versey & Abby-Ellen, Margot Conde Arenas, Chizu Anucha sowie Produced Moon und Storydive.
Foto- und Videodokumentation: Tao-Anas Le Thanh & Lucas Chih Peng Kao.
Gefördert im Programm Cultural Bridge, das bilaterale künstlerische Partnerschaften zwischen dem Vereinigten Königreich und Deutschland durch die Zusammenarbeit von Arts Council England, dem Arts Council of Northern Ireland, British Council, Creative Scotland, Fonds Soziokultur, Goethe-Institut London und Wales Arts International / Arts Council of Wales unterstützt. Außerdem unterstützt von Platform und gefördert von der Freien und Hansestadt Hamburg, Behörde für Kultur und Medien.
Mehr zum Projekt unter https://www.producedmoon.co.uk/audiohaunts
Englischsprachiger Blogbeitrag von Margot: https://www.producedmoon.co.uk/post/hexagone-a-spooky-easterhouse-audio-experience