2024 war für viele Kulturschaffende ein Jahr der Unsicherheit. Steigende Kosten bei sinkenden Budgets, niedrige Förderquoten, teils um Monate verzögerte Förderentscheidungen und die angekündigten Kürzungen im Kulturetat von Bund und Ländern für 2025 stellen auch uns vor große Herausforderungen. Dennoch – oder gerade deswegen – war 2024 ein Jahr, in dem wir gemeinsam mit vielen Partner*innen daran gearbeitet haben, Audiowalks zugänglicher zu machen und neue Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln, um dennoch etwas zu bewegen. Um uns für die Zukunft besser aufzustellen, haben wir außerdem gleich mehrere neue Technologien und Formate entwickelt und uns stärker mit der Hamburger Kulturszene vernetzt. Das ist eine Arbeit, die kurzfristig eher unsichtbar bleibt, aber natürlich umso wichtiger für unsere nachhaltige Weiterentwicklung ist. Beim Blick zurück wird auch deutlich: unsere Formate entwickeln sich weiter, werden interaktiver, partizipativer und spielerischer. Und jetzt: Vorhang auf für unseren Storydive Jahresrückblick 2024.
Januar
Die erste Premiere des Jahres findet bei schönstem Winterwetter in Jülich statt. Dort macht sich das feministische Kollektiv FAUL&HÄSSLICH. auf die Suche nach verlorenem Wissen und vergessenen Forschenden, die aus Laboren, Lehrstühlen und dem kulturellen Gedächtnis verdrängt worden sind. Ihr Audiowalk Voiceover Science deckt auf, wie männlich dominierte Strukturen bis heute darüber entscheiden, wer die Welt erforscht, wie Geschichte geschrieben wird und welche Konsequenzen das für unseren Alltag hat. Ein Beispiel: Frauen sterben bei einem Autounfall mit 17 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit, da sich die meisten Crashtest-Dummies an der männlichen Anatomie orientieren.
Die Frage nach verlorenem Wissen und verdrängten Stimmen beschäftigt uns auch bei unserer fortgeführten Zusammenarbeit mit dem Mixed Reality Theaterlabor Produced Moon aus Glasgow. Cultural Bridge heißt ein Programm von Goethe Institut, Fonds Soziokultur und dem British Arts Council, durch das wir uns letztes Jahr erstmals austauschen konnten. 2024 wollen wir unsere Zusammenarbeit fortsetzen und bewerben uns um eine weitere Förderung. Ende Januar kommt die Zusage! Neben Cultural Bridge unterstützt uns dieses Jahr auch der Internationale Kulturaustausch Hamburg und das Kulturzentrum Platform in Glasgow. Gemeinsam wollen wir ein Workshopkonzept für ein neues medienpädagogisches Format entwickeln: den Audio Hunt – eine Mischung aus Schatzsuche, Podcastproduktion und Audiowalk. Dafür werden wir in den folgenden Monaten gleich zweimal nach Schottland reisen und dort gemeinsam mit einer Gruppe Jugendlicher arbeiten.
Februar
Erinnert ihr euch noch an #here2hear, unsere Kurzhörspiele für Orte, die es in jeder Stadt gibt? Das Projekt haben wir 2021 mit den #BerlinAuthors umgesetzt, einem Netzwerk für Schreibende in Berlin. Anfang Februar sind wir nun nach Berlin eingeladen, wo das Netzwerk seinen fünften Geburtstag feiert. Ich spreche im Panel Kooperationen mit Katharina Stein und Nadja Kasolowsky über #here2hear, Schreiben für Audio und einen verliebten Oktopus. Die #here2hear Kurzhörspiele für Alltagsorte zeigen, wie Audiowalks auch ohne spezifische Ortsbindung funktionieren können – eine Idee, die wir für ein neues Projekt später im Jahr wieder aufgreifen werden.
Die Kraft ortsspezifischer Audiowalks beweist derweil Hamburg can dance: Unser Multiplayer-Format schafft es auf die Shortlist des Hamburger Tourismuspreises. Zur Preisverleihung auf der Reisen und Caravaning Messe Hamburg gehen wir mit Antonia Marmon und Louisa Knipschild von Harburg Marketing e.V., die den Audiowalk bei uns in Auftrag gegeben haben. Während des begehbaren Hörspiels schlüpfen je zwei Teilnehmende in unterschiedliche Rollen und müssen herausfinden, was ihr Gegenüber im Schilde führt.
Diese spielerische Komponente entwickeln wir Ende Februar mit unserem KI-Tool story2go weiter und stellen es beim KI Festival von nextMedia.Hamburg vor. Story2go passt eine von uns entwickelte Geschichte in Echtzeit auf die Reaktionen der Hörer*innen an. Diese sammeln Hinweise und lösen Rätsel, um einen mysteriösen Fall aufzuklären. Die Lösung sieht für jede*n anders aus.
März
Fabian entwickelt aber nicht nur ein KI-Tool, sondern auch neue Features für die Storydive App. Die erste Weiterentwicklung ist ein neuer Testmodus, der es erlaubt, das GPS-Tracking beim Hören auszusetzen. Dadurch können Tester*innen nun gezielt einzelne Orte überprüfen, ohne jedes Mal die ganze Route ablaufen zu müssen. Das ist vor allem für das Testen von interaktiven Walks sinnvoll, da die Storystränge einzeln überprüft werden können, ohne jeweils wieder von vorn zu starten. Die Idee für einen Testmodus steht schon länger im Raum, jetzt gibt es einen konkreten Anlass: Beim Projekt Willst du bleiben?, das Studierende der Uni Konstanz entwickeln, entsteht ein komplexer Audiowalk, bei dem die Hörer*innen eine Reihe von Entscheidungen treffen können.
Die zweite Weiterentwicklung entsteht ebenfalls für das Konstanzer Projekt: Fabian tauft sie “userspezifische Walkevents”. Hinter diesem neuen Fachbegriff steckt die Möglichkeit, Audiotracks in Abhängigkeit vom Verhalten der Hörer*innen abzuspielen. Ein Beispiel: Im Konstanzer Audiowalk muss der Junge Mika noch einmal nach Hause zurück, um vergessene Unterlagen zu holen, während seine Eltern im Bürgerbüro auf ihren Termin warten. Wer in Mikas Rolle schlüpft, kann sich beeilen oder unterwegs in einem Spiel oder im Gespräch mit einer der anderen Figuren die Zeit vergessen. Je nachdem, welches Tempo die Hörer*innen annehmen, schaffen sie es rechtzeitig mit den Unterlagen ins Bürgerbüro – oder nicht. In diesem Fall nutzen wir das neue Feature, um zu messen, wie schnell jemand sich zwischen zwei Auslösepunkten bewegt und den Inhalt entsprechend anzupassen. Die Geschichte kann sich aber auch nach den Entscheidungen vorangehender Hörer*innen verändern oder danach, wie viele Menschen gerade gleichzeitig den Walk hören. Damit lassen sich zum Beispiel Gruppendynamiken steuern, indem verschiedene Hörer*innen als Teil einer Gruppe unterschiedliche Anweisungen erhalten.
April
Im April machen wir zusammen mit Mel und Leo von Produced Moon Glasgow unsicher und arbeiten intensiv an unserem neuen Audio Hunt – Verzeihung – Audio Haunt Format. Ihr habt richtig gelesen: Aus der Schnitzeljagd wird ein Spuk, genauer gesagt planen wir ein audiobasiertes Escape Game mit Gruselfaktor. Spoooooky!
Die Idee dazu entwickeln wir im Laufe unseres Besuchs beim gemeinsamen Experimentieren mit verschiedenen Rätseln und Spielen. Wir entscheiden, dass wir Audiorätsel, Fake News und Fact Checking in den Mittelpunkt des Spiels stellen wollen. Außerdem sollen Geister eine wichtige Rolle spielen, weil wir Gemeinsamkeiten zwischen Geistergeschichten und Fake News entdecken, die wir weiter untersuchen wollen: beide arbeiten mit starken emotionalen Reizen wie Angst oder Empörung, beide basieren auf schwer überprüfbaren Behauptungen und Gerüchten und beide gewinnen an Bedeutsamkeit, je öfter sie erzählt oder geteilt werden. Und nicht zuletzt stellen beide die Frage, wie wir zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Als Medium, über das die Geister Kontakt aufnehmen, wählen wir das Radio.
Die eigentliche Geschichte wollen wir später mit den Jugendlichen zusammen entwickeln, doch dieser Rahmen gibt uns eine erste Richtung für die Entwicklung unserer Webanwendung vor: wir benötigen ein Audio Labor, in dem wir Tracks auf verschiedene Weise manipulieren können und ein digitales Radio, auf dem die Spieler*innen verschiedene Frequenzen einstellen müssen, um zu hören, was die Geister zu sagen haben. Nach der gemeinsamen Konzeptphase gehen wir in Hamburg und Glasgow an die Vorbereitung der nächsten Schritte: Neben der technischen Entwicklung steht auch die Entwicklung eines Workshopplans an.
Mai
Im Mai folgt gleich noch ein Meilenstein in der technischen Entwicklung. Diesmal geht es darum, den Zugang für unsere Hörer*innen zu erleichtern und uns für neue Zielgruppen zu öffnen: Mit unserem neuen Webplayer Ortspieler können Hörer*innen Audiowalks jetzt auch ohne App direkt über den Browser erleben – unterwegs, aber auch von zuhause aus. Sie können dabei selbst entscheiden, ob sie sich von einer Karte entlang einer Route leiten lassen möchten oder über vor Ort angebrachte QR-Codes direkt ins Geschehen einsteigen. Der Player eignet sich gut für Projekte in Innenräumen, wo die GPS-Ortung nicht funktioniert, oder für in der Stadt verteilte Hörstationen, die die Hörer*innen in beliebiger Reihenfolge ablaufen können. Außerdem lassen sich im Webplayer einzelne Tracks mit einem Passwort schützen – ein erster Schritt in Richtung Rätseltool, wie es bei unserem Audio Haunt in Glasgow zum Einsatz kommen soll.
Die erste Premiere auf der neuen Plattform feiert Horch amal! Wo Wipfeld klingt…, ein Projekt, das zeigt, wie lebendig Lokalgeschichte sein kann. Ein Team aus Ehrenamtlichen hat zwölf Stationen im Ort mit Geschichten aus dem Alltag gefüllt und mit Gesprächen und Geräuschen, die sonst nur an besonderen Tagen zu hören sind.
Juni
Kaum jemand weiß, dass in Augsburg ein Außenlager des KZ Dachaus war. Das Gebäude, die Halle 116, steht heute noch in Pfersee. Der Audiowalk Memory OFF Switch von Bluespots Productions führt von dort zu den Messerschmittwerken, wo die Häftlinge zur Arbeit gezwungen wurden. Die Strecke, die die Häftlinge fast täglich zurücklegen mussten, ist 11 km lang. Memory OFF Switch folgt diesem Weg und verbindet Zeitzeug*innenberichte mit der Reflexion der Frage, was die Erinnerung an die historische Dimension des Weges bedeutet: „Wir sind Teil des Generationenwechsels. Die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur werden ihre Geschichte bald nicht mehr selbst erzählen können. Jetzt ist es an uns, die Erinnerungen zu beleben!“ Den Audiowalk hat Bluespot Productions schon 2017 veröffentlicht. 2024 zieht er auf Storydive um, wo das Kollektiv auch schon mit Walk OFF Fame vertreten ist.
Im Juni testen wir außerdem eine neue Idee: Für Freund*innen, deren runde Geburtstage wir nicht vor Ort mitfeiern können, entwickeln wir ganz persönliche Audiowalks. Dafür sammeln wir Grußbotschaften von Freund*innen und Familienmitgliedern und legen sie entlang der täglichen Jogging- oder Spazierrunde. Die Nachrichten – meist kurze Anekdoten zu gemeinsam Erlebtem – ordnen wir zum Beispiel umgekehrt chronologisch zu einer kleinen Zeitreise an, oder nach den Orten, an denen wir gemeinsam Zeit verbracht haben. Dank Sprachnachrichten und Gruppenchat ist das Ganze schnell organisiert. Dann braucht es nur noch ein schönes Cover und natürlich ein Kennwort, damit der Audiowalk nur für das Geburtstagskind zugänglich ist.
Juli
Der Blick auf einen Ort ist immer persönlich, darum geht es auch in Willst du bleiben?. Der Audiowalk zeigt Konstanz durch die Augen dreier Ukrainer*innen. Entstanden ist er in einem Seminar an der Uni Konstanz unter der Leitung von Prof. Isabell Otto, das wir beratend begleitet haben. Die Geschichten von Nadiya, Anatoliy und Mika beginnen jeweils mit einem Termin im Bürgeramt – ein Erlebnis, das die Protagonist*innen auf ganz unterschiedliche Weise prägt. Verhandelt werden Themen wie Krieg, Flucht, der Kampf mit der Bürokratie, Heimweh und der Versuch, in Konstanz anzukommen. An mehreren Stellen müssen die Hörer*innen Entscheidungen treffen, die den weiteren Verlauf der Geschichte verändern. Die Studierenden haben die Geschichten und Routen entwickelt und den Audiowalk selbst eingesprochen und produziert. Nach zwei Semestern gemeinsamer Projektarbeit ist es im Juli dann soweit: Willst du bleiben? feiert Premiere!
Mit Wald. Berlin. Klima. Auf die Ohren! hat im Juli noch ein weiteres universitäres Projekt Premiere. Initiiert wird es von Johanna Reichel, die als Masterstudentin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin im Rahmen von Transform It! ein praktisches Seminar für Studierende verschiedener Fachgruppen anbietet. Bei Transform It! geht es darum, dass Studierende selbst ein innovatives Lehrformat entwickeln, das Themen wie den Klimawandel oder eine sozialgerechte Zukunft behandelt. Johanna und die Teilnehmenden produzieren einen Audiowalk ergänzend zum Klimalehrpfad Wald.Berlin.Klima im Grunewald, und gestalten die einzelnen Beiträge mal informativ, mal poetisch oder aktivierend. Da der Walk sich auch für Waldspaziergänge an anderen Orten anbietet, entscheidet sich Johanna für eine Veröffentlichung über unseren Webplayer.
Beim Hörspaz-Austausch NEXT NEXT STEPS, zu dem wir Mitte Juli zusammen mit dem Kulturkosmos Leipzig e.V. für zwei Tage nach Leipzig einladen, treffen sich mehr als 20 Audiowalk-Künstler*innen aus ganz Deutschland. Los geht das Treffen am Donnerstag mit einem Kennenlernen der Arbeiten der Teilnehmenden über Hörstationen. Danach gibt es Barcamp Sessions zu verschiedenen Themen und am Abend einen gemeinsamen Ausflug zum Leipziger Hörspielsommer. Am Freitag setzen wir uns in der großen Runde zusammen, um zu planen, wie wir uns in Zukunft besser vernetzen und gegenseitig unterstützen können. Hervorgegangen ist das Treffen aus unserem Barcamp NEXT STEPS im September 2023, über das wir hier unsere Erfahrungen teilen.
August
In Leipzig tauschen wir uns darüber aus, wie wir Geschichte(n) im Stadtraum erlebbar machen können. Diese Frage beschäftigt uns auch im August bei der Arbeit an einem Projekt für eine Stiftung, das erst 2025 veröffentlicht wird und aktuell noch keinen Titel trägt. Es möchte die Gründe und Auswirkungen, die der Strukturwandel auf eine Region und ihre Bewohner*innen hat, vor Ort veranschaulichen. Anhand einer fiktiven Familie soll über vier Generationen die Geschichte der Firma erzählt werden, die den Ort als Arbeitgeber seit mehr als hundert Jahren maßgeblich prägt. Das Projekt entsteht einerseits in Workshops mit Jugendlichen, andererseits beruht es auf Archivmaterial und Interviews mit Zeitzeug*innen.
Ich berate bei der Vorbereitung der Workshops und bei der Gestaltung des Audiowalks. Die Projektverantwortliche vor Ort entwickelt zunächst eine Route, die möglichst viele relevante Orte in chronologischer Reihenfolge abdeckt. Von dort ausgehend überlegen wir, wie wir die Orte und ihre Bedeutung nicht über Jahreszahlen und betriebliche Vorgänge, sondern durch die Geschichten einzelner Mitarbeitender zugänglich machen können. In den Workshops entwickeln die Jugendlichen fiktive, auf echten Biographien beruhende Figuren, denen wir später Rollen innerhalb der Geschichte zuordnen. Dann entscheiden wir uns für eine Erzählperspektive, plotten und schreiben das Skript, das Ereignisse aus über hundert Jahren auf eine Dreiviertelstunde verdichtet.
September
Vier Generationen Firmengeschichte, dagegen wirkt unsere eigene Geschichte wie ein Wimpernschlag: Kein Wunder, dass unser Firmenjubiläum – vier Jahre App-Launch, drei Jahre Unternehmensgründung – glatt im Entwicklungsendspurt unseres neuen Rätseltools untergeht.
Im September geht die Entwicklung für unseren Audio Haunt in die heiße Phase. Gemeinsam mit Produced Moon überlegen wir, wie wir die Spieler*innen durch das Spiel führen: Wir entwerfen User Stories, Entscheidungsbäume, Flowcharts, Papierprototypen. Dabei geht es um grundlegende Entscheidungen: Auf welchem Screen passiert was? Wie navigieren die Spieler*innen zwischen Audio Labor, Radio und Rätselseite? Woher wissen sie, wo im Spiel sie sich gerade befinden? An welcher Stelle braucht es welche Buttons oder Hinweise? Neben der Arbeit an der Oberfläche passiert auch viel im Hintergrund: welche Information wird wie und wann in welcher Datenbank gespeichert? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit ein neues Rätsel erscheint? Wie muss das Audio Labor funktionieren, damit Tracks auch langsamer, schneller oder rückwärts abgespielt werden können?
Produced Moon beginnt parallel mit wöchentlichen Workshops, in denen die jungen Menschen sich mit dem Thema Fake News, mit Geistergeschichten und Rätseln beschäftigen und ein erster Entwurf für das Spiel entsteht.
Zeitgleich geht unser Webplayer in Kassel an den Start: Das Projekt Move to the future von das collACTiv und Heike Wrede bringt Tanz in den öffentlichen Raum und macht ein Schaufenster zum interaktiven Ausstellungsraum. Das Projekt erforscht die Bedingungen freier darstellender Künste im Spannungsfeld von Raumnot und Konsum: Wie würde die Innenstadt mit mehr Kunst und Kultur aussehen? Ist darstellende Kunst eine Ware? Könnte man sie in einem Geschäft anbieten? An jeder Station findet das Publikum einen QR-Code, an dem es über Audio mehr über die Performance und die Performer*innen erfahren kann. Oder sogar selbst in Bewegung kommt. Gefördert vom Kulturamt der Stadt Kassel und dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur.
Oktober
Mitte Oktober fahren wir wieder nach Glasgow und arbeiten dort mit Produced Moon und jungen Menschen inhaltlich an unserem Audio Haunt weiter. Als wir für eine Intensivwoche zur Gruppe stoßen, ist bereits viel passiert: Ein erstes Skript steht und eine Reihe von Rätseln ist bestimmten Orten im Kulturzentrum Platform zugeordnet, zum Beispiel der Bibliothek oder dem Schwimmbad.
Gemeinsam mit den Jugendlichen machen wir uns an die Finalisierung des Skripts und die Audioproduktion. Sie sprechen alle Rollen selbst ein und dann geht’s auf Geräuschejagd: Wir fangen die Atmosphäre verschiedener Orte ein, sammeln Klänge für die Rätsel und experimentieren mit gruseligen Spezialsounds, die die Story noch spannender machen. Nach dem ersten Rohschnitt integrieren wir die Audiodateien und Rätsel in den Webplayer und starten einen Testlauf. Die Rückmeldungen der Teilnehmenden sind wertvoll – wir nehmen sie mit zurück nach Hamburg, wo die Entwicklung nach unserer Rückkehr weitergeht. Im Austausch mit Produced Moon passen wir Texte an, überarbeiten Rätsel und gestalten die visuelle Oberfläche neu. Die Jugendlichen testen jede Änderung und geben weiteres Feedback. Eine Woche vor der Premiere steht schließlich alles und das Projekt erhält seinen Namen: Hexagone. Die Spannung steigt!
November
Am 09. November ist es endlich soweit: Hexagone feiert Premiere! Der Audio Haunt erzählt die Geschichte von Benet, Filmemacher und Influencer, der im Kulturzentrum Platform die Premiere seiner Horror-Dokumentation The defeat of the devil witch feiert und kurz vor dem Q&A spurlos verschwindet. Die Spieler*innen schlüpfen in die Rolle des Junior-PR-Teams, das sich vor Ort auf die Suche nach Benet macht – denn die Chefin ist sich sicher: ein PR-Gag war das nicht. Als sich über Radio dann noch eine weitere Stimme in die Spurensuche einmischt, wird es gruselig: Kann es sein, dass die Hexe, die in Benets Film vom tapferen Helden besiegt wird, als Geist unter den Gästen weilt? Und dass sie eine eigene Version der Ereignisse, die zu ihrem Tod führten, erzählen will? Nach der Premiere beantworten die Jugendlichen in einem Q&A Fragen zum Entstehungsprozess. Wir können leider nicht dabei sein, freuen uns aber schon auf die Doku, die an diesem Tag entsteht.
Der November steht weiter im Zeichen internationaler Zusammenarbeit: Ich bin dieses Jahr erstmals Teil der Grand Jury beim Sound Walk September Award. Die Auszeichnung wird jährlich von der Online-Plattform Walk Listen Create vergeben. Den ganzen November über höre ich mich durch die Shortlist, eine faszinierende Reise durch die weltweite Audiowalk-Szene. Die Walks decken von niederschwelligen Communityprojekten über fiktionale Podcastproduktionen und Museumsführungen für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen bis hin zu Oral History Kunstprojekten ganz verschiedene Herangehensweisen und Perspektiven ab. Im Dezember trifft sich die internationale Jury, um das beste Projekt zu küren.
Dezember
“Du bist die Hauptfigur in einer Geschichte, die sich um dich herum entfaltet” – das beschreibt nicht nur die Audiowalk-Erfahrung, sondern auch etwas, das als Main Character Moment Eingang in die Jugendsprache und Popkultur gefunden hat. Main Character Moments laden dazu ein, jeden Augenblick als einen potenziellen Höhepunkt in unserer eigenen Geschichte zu betrachten – und als solchen zu inszenieren.
Main Character Moments (kurz: MCM) ist ein neues Projekt für Jugendliche, das wir mit Patrizia Schuster und Thomas Hof von collACTiv umsetzen. Nach ersten Vorbereitungen im Oktober und November beschäftigen wir uns im Dezember intensiv mit Individualität und Selbstinszenierung sowie mit der Frage, wie dieser Blick auf das eigene Leben unsere Erwartungen an den Alltag und das Zusammenleben mit anderen verändert. Kann jede*r Main Character Moments erleben, oder sind sie Ausdruck von Privilegien? Und sensibilisiert uns die Suche nach besonderen Momenten für die Schönheit des Alltags, oder verstellt sie unseren Blick darauf?
MCM ist eine Audiowalktrilogie, die Mittel des filmischen Erzählens auf den öffentlichen Raum überträgt. Die Audiowalks entstehen dabei nicht für spezifische Orte, sondern für Ortstypen, die es in jeder Stadt mehrfach gibt und die dadurch von überall schnell zu erreichen sind. Die Premiere ist für April 2025 in Hamburg und Kassel geplant. Gefördert wird MCM von der Hamburgischen Kulturstiftung, der Dr. Wolfgang Zippel‐Stiftung, der Stadt Kassel sowie dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Forschung, Kunst und Kultur.
Mit der Förderung für MCM endet das Jahr versöhnlich – denn leider konnten wir 2024 längst nicht alle unsere Projektideen umsetzen. Es fällt schwer, zurückzublicken, ohne sich zu fragen: Was, wenn wir eine Zusage für unsere Idee bekommen hätten, einen Audiowalk über ein Flussökosystem von Muscheln steuern zu lassen, die sich je nach Wasserqualität öffnen oder schließen? Was, wenn unser Mysteryspiel Doppelstadt Realität geworden wäre, bei dem wir Skulpturen in Schaufenstern über IoT-Aktoren zum Leben erwecken wollten? Was, wenn wir zusammen mit unseren Hörer*innen einen Stadtplan von Hamburg entstehen lassen hätten, der die emotionale Qualität von Orten sichtbar macht? Es steckt noch so viel Potenzial in der Verbindung von ortsspezifischem Storytelling und Technologie!
Auch wenn die kommenden Monate weitere Herausforderungen bereithalten – eines hat 2024 deutlich gezeigt: Gemeinsam können wir selbst in bewegten Zeiten Neues schaffen. Vom feministischen Audiowalk in Jülich bis zum Audio Haunt in Glasgow (die beide von Hexenverfolgungen erzählen), von studentischen Projekten zu Flucht und Klimawandel bis zur Erforschung popkultureller Themen – Audiowalks ermöglichen Erlebnisse, die Menschen zusammenbringen und neue Perspektiven eröffnen. Es zeigt sich immer wieder, wie wichtig der Austausch in der Community und wie bereichernd die Zusammenarbeit mit engagierten Partner*innen ist. Die technischen Innovationen dieses Jahres machen unsere Projekte nicht nur zugänglicher und nachhaltiger, sondern ermöglichen für 2025 auch neue Formate und Partnerschaften. Wir freuen uns auf das nächste Jahr und sind gespannt auf die Geschichten, die wir zusammen entdecken und erzählen werden!
Das war 2024. Neugierig auf die vorherigen Jahre? Hier geht’s zu den Jahresrückblicken 2023, 2022, 2021 und 2020.