Das Audiowalkbarcamp NEXT STEPS geht in die zweite Runde! Heute in einer Woche treffen sich über zwanzig Audiowalkkünstler*innen aus ganz Deutschland zu einem zweitägigen Austausch. Organisiert wird das Treffen von Storydive und dem Kulturkosmos Leipzig e.V., dort treffen wir uns auch. Also, auf nach Leipzig! Vorher nehme ich mir aber endlich Zeit, ein paar Zeilen über unser erstes Barcamp zu schreiben.
Hamburg, 20. September 2023. Obwohl eigentlich alles vorbereitet ist, beginnt der Tag hektisch. Um 14:00 startet unser Barcamp NEXT STEPS im Space in der Hafencity. Spätestens um 12:00 will ich da sein, um den Raum zusammen mit Fabian und Anna vorzubereiten. Also noch ein paar Sachen zusammenpacken, dies, das, auf einmal bin ich spät dran und habe viel zu viel Gepäck. Als ich endlich an der Haltestelle ankomme, steht die Bahn schon da. Ich springe rein, puh, geschafft!
Tja, denkste. Ich weiß nicht, ob ich morgens mit dem falschen Fuß aufgestanden bin, sicher ist aber: Ich bin gerade in die falsche U-Bahn eingestiegen. Und merke das erst, ja richtig: an der Endhaltestelle in Norderstedt Mitte. Für alle Nicht-Hamburger*innen: Das ist fast eine Stunde von dem Ort, an dem ich eigentlich schon sein will.
Nicht schlimm, Fabian und Anna sind ja da, nehmen die Essenslieferung an, räumen den Kühlschrank ein, stellen Stühle auf, richten die Technik ein usw. Aber dass ich erst nach einer halben Stunde merke, dass ich falsch bin, zeigt, wie viel mir an diesem Tag im Kopf herumgeht. Dabei ist so ein Barcamp die perfekte Veranstaltung für alle, die nicht viel planen wollen (und, noch wichtiger, für alle, die auf partizipative Formate stehen, bei denen jede*r sich einbringen kann!).
Was ist das eigentlich, ein Barcamp?
Einen Raum, ein Flipchart und Marker, ausreichend Kaffee und Menschen, die für ein Thema brennen – mehr braucht man dafür eigentlich nicht. Das Programm gestalten alle Teilnehmenden gemeinsam und vor Ort. Nach einer kurzen Kennenlernrunde schlägt jede*r eine oder mehrere sogenannte Sessions vor. Bei uns reichen sie von A wie Audience Development über N wie Niederschwelligkeit und P wie Partizipation bis Z wie Zukunft. Danach wird abgestimmt: wer hat Bock auf welches Thema? Sessions mit vielen Interessierten erhalten Einzelslots, solche mit kleinerem Publikum können gleichzeitig stattfinden. Eine Session dauert 45 Minuten und kann zum Beispiel ein Workshop sein, eine offene Diskussion oder ein gemeinsames Brainstorming. Oft reicht eine Frage, um den Austausch auf den Weg zu bringen.
Die Frage, mit der alles beginnt und die auch bei NEXT STEPS im Mittelpunkt steht, lautet: Wie können wir voneinander lernen? Durch unsere Arbeit mit Storydive kennen Fabian und ich mittlerweile viele Audiowalkkünstler*innen – aber kennen sie sich auch gegenseitig? Wir sind gespannt, was ein gemeinsamer Austausch für Impulse bringt. Wer bringt welche Herausforderung mit? Wer welche Lösungen? Und haben wir gemeinsame Ziele?
Unterschiedliche Perspektiven einnehmen – die Sessions am Mittwoch
In der ersten Runde mit zwei parallelen Sessions stellt Julia Nordholz aus Hamburg ihr ortsspezifisches Soundfestival Floating Emissions vor, während Miriam Artmann von Bluespots Productions aus Augsburg mit uns brainstormt, wie Audiowalks gesellschaftliche Themen im Stadtraum sichtbar machen können. Wir sprechen darüber, wie schwierig es zu adressieren ist, dass Themen für Betroffene extrem gegenwärtig und für Unbeteiligte trotzdem unsichtbar sein können. Gerade, wenn wir für ein bestimmtes Thema sensibilisieren möchten, setzen wir bei den Hörer*innen vielleicht gezielt Unwissen voraus, um niemanden auszuschließen. Wie aber wirkt das auf selbst Betroffene, die den Walk hören? Wie markieren wir die Perspektive, aus der wir erzählen – und wie können wir sie wechseln?
Danach moderiert Fabian eine Session zur Frage, wie kreative Prozesse und Umsetzungstechnologien sich gegenseitig beeinflussen. Gleichzeitig bietet Benjamin Böckervon hyper_real, ebenfalls aus Hamburg, einen Workshop zu seiner partizipativen Arbeitsweise an, die er für Stadtteilprojekte nutzt. In Zweierteams überlegen wir, wie andere Menschen bestimmte Orte für uns geprägt haben und wie wir sie in einem Audiowalk inszenieren würden. Ich tausche mich mit Hartmut über seine tägliche Hunderunde übers Land aus. Diese führt ihn an einem Haus vorbei, vor dem bei jedem Wetter ein alter Bauer sitzt. Der Mann gehört für Hartmut mittlerweile fest zur Landschaft. Wir spekulieren darüber, welche Rolle Hartmut mit seinen ebenso regelmäßigen Spaziergängen für andere Bewohner*innen seines Ortes spielt und stellen uns einen Audiowalk aus der Außenperspektive vor.
Danach ist der erste Tag auch schon vorbei und nach einer kurzen Abschlussrunde machen wir uns auf den Weg zum gemeinsamen Abendessen. Bei Pizza und Pasta lernen wir uns weiter kennen und schmieden Pläne für den nächsten Tag.
Von Sonification und Flaneusen – das Programm am Donnerstag
Nach dem gemeinsamen Frühstück starten wir am Donnerstagmorgen mit Rebekka Jochems Session. Rebekka ist eine Soundkünstlerin aus Brüssel, die gerade zum Thema Sonification forscht. Was verbirgt sich dahinter? Rebekka startet mit einem Beispiel: Sie zeigt uns ein Video, in dem Daten zur CO2-Entwicklung und zur globalen Durchschnittstemperatur hörbar gemacht werden. Je stärker der Anstieg, umso lauter und schriller der Ton. Bei der Sonification geht es also darum, Daten hörbar zu machen. Danach diskutieren wir in Zweierteams darüber, welche Daten wir gern in einem Audiowalk hörbar machen wollen. Hier ein paar Ideen von Miriam und mir: Miet- und Kaufpreise pro m², Energieverbrauch, Lieferfrequenz von Amazon, die Anzahl von Menschen, die sich gerade in einem gewissen Umkreis befinden (drinnen und draußen), Gebäudehöhen und Abwasservolumen. Schließlich landen wir bei der Frage, wie viel Zeit am Tag wir mit welcher Tätigkeit verbringen. Und wie das bei anderen aussieht. Könnte man daraus nicht einen Soundtrack für die eigene Nachbarschaft erstellen? Und dann beobachten, wie sich dieser Soundtrack über den Tag verändert?
Vom Gedankenspiel in die Umsetzung: In der folgenden Session diskutiert Hartmut von MS Schrittmacher mit uns über Niederschwelligkeit. Wie können Audiowalks ein größeres Publikum erreichen und es diesem Publikum dabei möglichst einfach machen, den Walk zu erleben? Dieses Thema trifft einen Nerv, schließlich steckt in jeder Veröffentlichung auch viel Kommunikationsarbeit. Nicht selten startet die Ankündigung einer neuen Arbeit immer noch mit einem Abriss darüber, was so ein Audiowalk eigentlich ist, und einer ausführlichen Anleitung. Wir sprechen darüber, wie wir Hörspaziergänge besser im Stadtraum sichtbar machen können (QR-Codes? Plakate? Aufsteller?), wo wir unser Publikum erreichen (online, Touri-Info, Programmhefte von Theatern) und wo wir es gern erreichen würden (direkt am Startpunkt, an der Bushaltestelle, auf einer gemeinsamen Plattform). Was denken Leute, was Audiowalks sind (Stadtführungen, Audioguides) – und was sind Audiowalks wirklich? (Die Meinungen gehen auseinander). Welche Möglichkeiten zur Veröffentlichung nutzen wir? (App, Webplayer, Download) Und wo stellt das eine Hürde für unser Publikum dar? (Handyempfang und Datenvolumen, Auffindbarkeit, Bedienbarkeit). Doch auch wenn jede Lösung ihre eigenen Herausforderungen mitbringt, bleibt die größte Hürde die Unbekanntheit des Formats und die lokale Beschränkung, die zur Vereinzelung beiträgt.
Nach dem Mittagessen beschließen wir, draußen weiterzumachen. Wir machen es uns auf den Magellan-Terrassen bequem und sprechen mit Juliana Hutai aus Berlin über Flaneusen, ihre Kompliz*innen und feministische Stadtplanung. Juliana stellt uns mit “critical mapping” eine Methode zur Raumaneignung vor. Zunächst zeichnen wir eine Stadtkarte, die Orte aus unserem Alltag im Verhältnis zueinander zeigt: An welchen Orten halten wir uns viel auf? Wie verhalten wir uns dort? Welche Wege legen wir zurück? Und wie wirkt sich das auf unsere Beziehungen mit anderen aus? Wir stellen fest: hohe Mieten zwingen uns in verschiedene Vororte, die Wege sind weit, wir treffen Freund*innen oft irgendwo in der Mitte, finden dort aber nicht die Orte, die wir uns wünschen. Welche wären das? Im nächsten Schritt zeichnen wir ein, was wir vermissen: nicht-kommerzielle Aufenthaltsorte für kalte Tage, mehr öffentliche Toiletten und Wasserspender für warme, bessere Nahverkehrsanbindungen, Orte, an denen wir mit unseren Nachbar*innen ins Gespräch kommen können.
Angela Kobelt aus Leipzig hat den Finanzplan zu einem aktuellen Projekt mitgebracht. Ihr Thema: Wie kalkulieren wir die Aufwände für unsere Arbeit? Wir gehen die verschiedenen Posten durch, ergänzen, stellen Fragen, geben Tipps für Förderanträge und tauschen uns über unsere Erfahrungen aus. Es tut gut, über Geld zu sprechen. Und dann: Kaffeepause.
Gestärkt wagen wir uns in der nächsten Session nochmal ans Thema Publikum. Ich habe für meine Session einen kleinen Fragebogen vorbereitet, denn mich interessiert: Was wissen wir eigentlich über unsere aktuellen Hörer*innen? Welche Erwartungen bringen sie mit? Was interessiert sie? Wir vergleichen unsere Antworten und merken, dass das Publikum je nach Thema und Stadt doch sehr unterschiedlich ist. Die einen möchten etwas lernen, andere in eine Geschichte eintauchen, einigen geht es um das Gemeinschaftsgefühl in der Gruppe, andere genießen es, beim Hören allein zu sein. Für manche ist es attraktiv, die eigene Nachbarschaft neu kennenzulernen, für andere ist ein Audiowalk ein Ausflugsziel und Anlass, mal einen anderen Stadtteil zu besuchen. Das einzige, das offenbar überall gilt: viele Hörer*innen kommen durch Mundpropaganda. Miriam erzählt von einer Hörerin, die zur Multiplikatorin für ihren Augsburger Audiowalk “Walk OFF Fame” wurde: durch starke persönliche Berührungspunkte zu den Themen Kolonialismus und Rassismus, die im Walk verhandelt werden, begann sie, immer mehr Bekannte dazu einzuladen und dafür eigene Events und gemeinsame Begehungen zu planen. Am Ende hat Leonie Pichler, ebenfalls aus Augsburg, noch einen guten Tip, wie man die Hörer*innen zum Weitersagen anstiften kann: Jeder ihrer Audiowalks endet mit der Aufforderung, sich zu überlegen, mit wem man ihn gern zusammen hören würde und ihn dann mit dieser Person zu teilen.
Eine gute Überleitung zu Leonies Session, die als letzte des Tages auf meine folgt: “Die Magie des Audiowalks oder Das unsichtbare Theater”. Zunächst stellt Leonie ein Projekt von Unicef vor, an dem sie mitgearbeitet hat: beim Theater der 10.000 haben Menschen in 80 deutschen Städten gleichzeitig auf öffentlichen Plätzen dieselbe Audiospur gehört und sich dabei in Zeitreisende verwandelt, die ins Jahr 2019 zurückreisen, um die Menschheit zu retten. Danach machen wir uns ans Sammeln: Was macht eigentlich das Format Audiowalk so besonders? Was sind unsere Geheimzutaten, um das Publikum noch stärker mit ins Geschehen einzubeziehen? Wie können wir Realität und Fiktion miteinander verschmelzen lassen? Wir sprechen über mögliche Umgebungsinteraktionen, darüber, welche Spielregeln wir zu Beginn aufstellen und wie wir mit den Hörer*innen einen Pakt eingehen können. Welchen Auftrag erfüllen die Hörer*innen? Wie spielen Gehörtes, eigene Gedanken, Bewegungen und Wahrnehmungen zusammen? Welche Rolle spielt der Einsatz von Soundeffekten und Musik dabei? Am Ende halten wir fest: “Sei charmant, lustig, tiefgründig, ehrlich, radikal, liebevoll, mutig und du selbst. Dein Publikum ist interessiert, verspielt, motiviert und schlau!” Und dann machen wir uns auf den Weg zum Abendessen.
Nächste Schritte planen – Ausklang am Freitag
Den Freitagmorgen haben wir uns bei der Planung am Mittwoch bewusst offen gehalten, um spontan auf Themen reagieren zu können, die während des Barcamps aufkommen. Das Thema, das alle umtreibt – und hier komme ich zurück zum Treffen nächste Woche in Leipzig: Wie können wir den Austausch fortführen?
Wir möchten in Kontakt bleiben und gemeinsam daran arbeiten, dass das Format Audiowalk die Sichtbarkeit bekommt, die es verdient. Außerdem möchten wir die Runde öffnen und mehr Audiowalkkünstler*innen mit ins Boot holen. Und dann? Wie wäre es mit einem monatlichen Online-Austausch? Eine Art Stammtisch? Und einmal im Jahr ein Barcamp in wechselnden Städten? Für die Außenwirkung vielleicht eine Aktionswoche oder ein Festival? Wie könnte das aussehen? Wo soll es stattfinden? Die Ideen fliegen, die Zeit vergeht viel zu schnell und dann ist das erste Audiowalk Barcamp NEXT STEPS auch schon vorbei.
Wir sagen Tschüss, aber nicht für lang: Zwei Wochen später treffen wir uns wieder – NEXT STEPS ist nämlich ein hybrides Barcamp, dessen zweiter Teil online stattfindet, um mehr Menschen die Teilnahme zu ermöglichen. Einen Nachmittag lang tauschen wir uns in weiteren Sessions aus. Seither stehen wir in regelmäßigem Kontakt und freuen uns, dass immer wieder neue Gesichter dazustoßen. Die Audiowalkszene tauscht sich aus, lernt voneinander, wächst zusammen und arbeitet an einer gemeinsamen Strategie für mehr Sichtbarkeit. Wir freuen uns, mit NEXT STEPS den Anstoß dazu gegeben zu haben und bedanken uns bei allen Teilnehmenden für die tollen Sessions, die freundliche Atmosphäre und die Offenheit, mit der ihr euch auf das gemeinsame Abenteuer eingelassen habt!
Du möchtest Teil unseres Netzwerkes werden? Schreib an info@storydive.de um dich in unseren gemeinsamen Emailverteiler aufnehmen zu lassen!