Herzklopfen auf der Hängebrücke
Embodiment oder: sich durch die Geschichte hindurch bewegen

Herzklopfen auf der Hängebrücke
Embodiment oder: sich durch die Geschichte hindurch bewegen

Herzklopfen auf der Hängebrücke
Embodiment oder: sich durch die Geschichte hindurch bewegen
1920 706 Sophie Burger

Während eines Audiowalks treten die Zuhörenden in die Fußstapfen deiner Figuren und vollziehen deren Bewegungen bis ins Detail nach. Warum die Bedeutung dieser Bewegung enorm ist und wie du ihre Wirkung für dein Erzählen nutzen kannst.

Körper und Bewegung

Während meines Studiums habe ich immer mal wieder an Audio- und Videowalks teilgenommen. Bei den meisten erinnere ich mich noch ganz genau an einzelne Momente. Diese Momente haben alle etwas gemeinsam: ich weiß noch, wie ich mich dabei bewegt habe. 

In Janet Cardiffs Videowalk “Alter Bahnhof” bei der Documenta13, bei dem man, ausgestattet mit iPad und Kopfhörern den Kasseler Bahnhof erkunden konnte, gibt es einen Moment kurz nach Beginn des Walks, an den ich mich noch gut erinnern kann. Noch habe ich mich nicht vom Fleck bewegt, sitze auf einer Bank, nehme die Atmosphäre des Bahnhofs auf, beobachte die Leute, die vorbeigehen, im Video und in echt. Die Erzählerin erklärt mir, wie ich meine eigenen Bewegung der des Videos anpassen soll. Die Kamera schwenkt nach links oben. Im Video steht da eine Frau im roten Mantel und blickt nach unten. Kurz darauf werde ich sie mit ihrem Koffer an mir vorbei in Richtung der Gleise eilen sehen. Doch im Moment steht sie einfach da und schaut in meine Richtung. Und auch in Wirklichkeit steht da jemand. Ich beachte die Person nicht weiter, denn jetzt startet der Walk und ich folge zwei Musikern, die gerade zwischen den Säulen hervorgetreten sind. Der Walk dauert ca. 30 Minuten. Ich gehe durch den Bahnhof, lausche, vergleiche meine Umgebung und ihr Abbild, beides verschwimmt. Irgendwann steige ich die Treppen zum Obergeschoss hinauf. Ich bleibe stehen, blicke nach unten. Und da sitzt jemand auf der Bank, auf der auch ich vorhin gesessen habe. Die Person schaut zu mir hoch, und da verstehe ich, dass ich jetzt die Frau im roten Mantel bin, und dass die Person, die nach oben schaut und mich vielleicht auch noch gar nicht richtig wahrnimmt, später genau hier stehen wird. Ich erinnere mich an den Moment, als ich die Person war, die jetzt dort unten sitzt. Da steht sie auf, beginnt ihren Walk, und ich beende meinen. 

Die einzige Anweisung, die ich zu Beginn mit auf den Weg nehme, ist, dass ich den Bewegungen der Kamera folgen soll. Ihr Standpunkt soll meiner werden. Und allein diese Positionierung lässt mich nacheinander zu verschiedenen Akteuren innerhalb einer kurzen Erzählung werden, in der Dinge jetzt geschehen, aber erst später durch weitere Bewegungen eine Bedeutung erhalten. 

Ganz ähnliche Situationen gibt es in “Situation Rooms” von Rimini Protokoll, einer Art Multi-Player Videowalk, bei dem jede Aktion durch eine Reaktion nicht nur im Video sondern auch durch einen anderen Zuschauer gespiegelt wird und alle Zuschauer zugleich einen Apparat, den sie nur zum Teil und erst nach und nach verstehen, am Laufen halten. Ich schlüpfe in die Rolle verschiedener Personen, deren Leben vom Krieg geprägt ist –  bin Zivilist, Waffenhändler, Kindersoldat, Arzt und Munitionsfabrikant. Was die Arbeit vor allem ausmacht, ist, dass ich selbst innerhalb dieser perfekt eingestellten Maschinerie agieren und reagieren soll, und zwar mit meinem Körper. Mal verstecke ich mich, mal liege ich auf einer Trage, mal im Schützengraben, mal steuere ich eine Drohne, mal hisse ich eine Flagge. Natürlich tue ich diese Dinge als Teil eines Theaterabends, aber es sind die Handlungen, an die ich mich heute – nach knapp 7 Jahren – noch erinnere. Es ist die Borscht-Suppe, die ich in der Küche der Arbeiterin einer Munitionsfabrik in Russland esse, deren Geschmack ich mir heute noch in Erinnerung rufen kann. Es ist, wie ich in einer Rolle etwas tue (zum Beispiel einen Stromausfall verursachen), und in der nächsten die Konsequenzen dieses Handelns selbst zu spüren bekomme. 

Embodiment

Wenn du deinen Audiowalk konzipierst, denkst du vermutlich zunächst einmal von der Geschichte aus, die du erzählen möchtest. Wie passt die Geschichte an die verschiedenen Schauplätze? Wie verbindest du die Erlebnisse an diesen Schauplätzen, so dass deine Zuhörer*innen sie als Spaziergang erleben können? Das sind wichtige Fragen, aber sobald du sie beantwortest hast, solltest du zu einer weiteren Fragen kommen: wie schaffst du es, dass ich als Zuhörerin Teil deines Audiowalks werde? Wie knüpfst du eine Beziehung zwischen mir und deiner Geschichte, etwas, an das ich mich sogar in einigen Jahren noch erinnern kann? 

Dabei kann dir Embodiment helfen. Aber was ist das überhaupt? Embodiment ist ein Begriff aus der Kognitionswissenschaft. Während wir selbstverständlich davon ausgehen, dass unsere psychische Verfassung sich in unserer Körperhaltung und -sprache spiegelt, denken wir in der Regeln nicht daran, dass diese Beeinflussung auch andersherum funktioniert, dass also physische Zustände auch auf die Psyche wirken. Tatsächlich bestimmt aber zum Beispiel unsere eigene Körperhaltung mit, wie wir Situationen oder andere Menschen einschätzen und beurteilen. 

Zu diesem Phänomen gibt es mittlerweile eine Reihe neurowissenschaftlicher und psychologischer Studien, deren Ergebnisse teils recht skurril anmuten. Einige Beispiele: wer eine Tasse mit warmem Tee oder Kaffee in der Hand hält, ist freundlicher zu seinen Mitmenschen. Wer eine Rolltreppe hochfährt, ist spendabler als jemand, der sie hinunterfährt. Wenn dir jemand seine Nummer auf einer wackeligen Hängebrücke über einem Abgrund zusteckt, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass du ihn/sie wiedersehen möchtest, doppelt so hoch, als wenn du ihn/sie im Park getroffen hättest. 

Embodiment und sprachliche Bilder

Interessanterweise lassen sich viele dieser Beobachtungen anhand von sprachlichen Metaphern nachvollziehen. Wärme zum Beispiel wird nicht nur mit einem physikalischen Phänomen assoziiert, sondern auch mit Emotionen: wir sprechen von Warmherzigkeit, von einem warmen Lächeln und im Gegenzug von emotionaler oder sozialer Kälte und von einem kalten Blick. Kognitionsforscher gehen davon aus, dass die Wärme des Heißgetränks im Gehirn die Vorstellung von emotionaler Wärme auslöst, weil es eine Verschränkung von körperlicher Wahrnehmung und dem gedanklichen Konzept von Wärme gibt. 

Oben und unten bringen wir gleich mit einer ganzen Reihe von Zuständen in Verbindung: oben ist gut, unten ist schlecht. Oben ist mehr, unten ist weniger. Oben ist Erfolg, unten ist Niederlage. Oben ist Macht, unten ist Ohnmacht. Gesundheit und Leben sind oben, Krankheit und Tod sind unten. Und natürlich ist auch der Himmel oben und die Hölle unten. Kein Wunder also, dass sich Testpersonen, die sich gerade auf dem Weg “nach oben” befanden, eher in der Lage sahen, mit anderen zu teilen. 

Die beiden Linguistiker George Lakoff und Mark Johnson haben die Idee geprägt, dass Metaphern tief in unserem Denken und Handeln verankert sind. Die beiden gehen davon aus, dass Metaphern unser Denken strukturieren und dadurch unsere Wahrnehmung im Wesentlichen beeinflussen. Dem voraus geht die Überlegung, dass abstrakte Vorstellungen überhaupt erst auf der Basis grundlegender körperlicher Erfahrungen entstanden sind. Metaphern bilden sozusagen die Brücke zwischen Körper und Konzept.

Apropos, was hat es denn nun mit dem Date auf der Hängebrücke auf sich? Ganz einfach: Aufgrund der Ausnahmesituation schlägt dein Herz schneller, und diese Aufregung schreibst du unbewusst fälschlicherweise deinem Date (und nicht der wackeligen Brücke) zu. 

Embodied Metaphors

Lass uns nochmal über die von Lakoff und Johnson untersuchten “embodied metaphors” nachdenken. Welche Rolle können sie für deinen Audiowalk spielen?  

Schauen wir uns dazu zuerst mal Orientierungsmetaphern an. Hierzu gehören alle Metaphern, die von einer räumlichen Relation ausgehen. Zum Beispiel das Paar „oben“ und „unten“, von dem wir es schon hatten, oder “vorne und “hinten”. Konkret kann ich daraus zum Beispiel folgendes Bild ableiten: „Die Zukunft liegt vor uns, die Vergangenheit hinter uns“. 

Wenn ich es nun beim Schreiben für Storydive mit einer Figur zu tun habe, der in der Vergangenheit etwas Schlimmes zugestoßen ist und die sich nun von dieser Vergangenheit „verfolgt“ fühlt – die Vergangenheit schleicht sozusagen hinter der Figur her – werde ich darauf achten, den Zuhörenden immer wieder Anlass zu geben, hinter sich zu sehen. Wenn ich hingegen jemanden mit einem klaren Ziel für die Zukunft vor Augen los schicke, werde ich ihn sich an Punkten orientieren lassen, die in gerader Linie relativ weit vor ihm liegen.

Wenn nun deine Figur eine Entwicklung von „in der Vergangenheit leben“ zu „in die Zukunft blicken“ machen soll, kannst du mit dem wiederholten Blick nach hinten anfangen und wechselst dann mit Fortgang der Geschichte zum Blick nach vorn. Idealerweise findest du dabei auch eine räumliche Entsprechung für den Übergang zwischen beiden: der Moment, in dem sich die Figur weiterentwickelt. Das könnte zum Beispiel geschehen, wenn die Figur an einer Kreuzung eine wichtige Entscheidung fällt und dann infolgedessen eine Straße überquert, die für die Schwelle zwischen beiden Zuständen steht.

Im Film finden solche Orientierungsmetaphern übrigens ebenfalls Anwendung, zum Beispiel in der Kamerperspektive, wenn mit Ober- oder Untersicht auf Figuren geschaut wird und diese dadurch unter- oder überlegen wirken. In deinem Audiowalk lässt du beispielsweise jemanden nach oben oder unten schauen, um einen ähnlichen Effekt zu erzeugen. Durch den bewussten Einsatz von embodied Metaphors kannst du deine Zuhörer*innen darin unterstützen, dass die eigene Bewegung eine Bedeutung innerhalb der Geschichte erhält und erinnerungswürdig wird. 

Audiowalks sprechen alle Sinne an

Die Grundsituation eines Audiowalks ist, dass sich die Zuhörenden in einer realen Umgebung befinden, die gleichzeitig Schauplatz der fiktiven Geschichte ist, der sie gerade lauschen. Sie versetzen sich also nicht nur – wie etwa beim Lesen oder wenn sie einem Hörbuch lauschen – gedanklich in die Situation der Figur, sondern nehmen deren Position auch mit dem eigenen Körper ein. Die Zuhörer*innen vollziehen dabei Bewegungen der Figur nach, nehmen bestimmte Haltungen ein und setzen dabei alle Sinne ein. Dass der Schauplatz mit allen Sinnen wahrgenommen und erkundet werden kann, ist eine der großen Stärken von Audiowalks. Hier ist es also passiert. So hat sich die Figur dabei gefühlt. Das führt zu einer starken emotionalen Verbindung zur Geschichte.

Für die Kinder, die unsere Geschichte Lucas’ Kopfkino ausprobiert haben, waren oft die Momente besonders eindrücklich, in denen sie sich bewusst anders als gewohnt bewegt haben. Als wir sie nach den besten Momenten gefragt haben, sagten sie zum Beispiel: “als ich mich vor der Kamera verstecken musste” oder “als wir ganz leise geschlichen sind”. Solche körperlichen Erfahrungen waren es auch, die mir zu den zu Beginn beschriebenen Videowalks von Janet Cardiff und Rimini Protokoll im Gedächtnis geblieben sind. 

Es geht bei Embodiment nicht nur um die Verknüpfung von konkreten Handlungen und Bewegungen mit abstrakten Konzepten, sondern um das körperliche Hineinversetzen in eine Figur. Psychologische Studien zeigen, dass wir zum Beispiel stärker mit anderen mitfühlen, wenn wir deren Gesichtsausdruck und Körpersprache nachahmen. Nimm dir daher die Zeit, dir zu überlegen, wie sich die Gedanken und Gefühle deiner Figur in ihrer Körperhaltung, ihren Bewegungen und ihrer Mimik spiegeln und beschreibe das. Beim Zuhören können andere sich so besser in deine Figur hineinversetzen. Noch eindrücklicher kannst du diese Erfahrungen durch Interaktionen mit der Umgebung gestalten.

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