Ich habe gerade dem Institut für angewandte Narrationsforschung in Stuttgart ein Interview zum Thema “immersives Storytelling” gegeben und möchte die Gelegenheit nutzen, meine Gedanken zum Thema hier nochmal zu sortieren. Vor allem auf die Fragen “Was ist immersives Storytelling?”, “Was hat immersives Storytelling mit Virtual Reality zu tun?” und “Was kann Virtual Reality vom Audiowalk lernen?” werde ich hier nochmal eingehen.
Was ist immersives Storytelling?
Immersion spielt schon lange eine große Rolle beim Geschichtenerzählen und bezeichnet die Fähigkeit, in eine Erzählwelt einzutauchen, sich in ihr zu vertiefen und sie für eine begrenzte Dauer gewissermaßen als real wahrzunehmen. Immersives Storytelling wäre dementsprechend, wenn ich eine Geschichte so erzähle, dass Immersion möglich wird. Das Ziel dabei ist, dass mein Publikum voll und ganz in das Geschehen eintauchen kann und das Gefühl hat, selbst Teil davon zu sein.
Vor allem als englischsprachiger Begriff ist “immersive Storytelling” aber auch ein Buzzword, mit dem aktuell oft Erzählformate aus dem VR- und AR-Bereich beschrieben werden. Der Gedanke dahinter ist, dass es diese Technologien besser als andere Medien ermöglichen, in eine Geschichte einzutauchen, weil sie nicht nur unsere Vorstellung, sondern auch unseren Körper mit einer Erzählwelt interagieren lassen können.
Früher wurde der Begriff “Immersion” häufig im Zusammenhang mit Gaming verwendet – u.a. ging es dann um Fragen wie: Wie realistisch und flüssig ist die Grafik? Und wie vollständig und glaubwürdig ist die Welt, die ich als Spieler*in erkunden kann? Kurz: alles, was daran erinnerte, dass es “nur” ein Spiel war, gab Abzug in puncto Immersion, alles, was es erlaubte, das zu vergessen, gab Pluspunkte.
Immersion spielt aber auch beim Film eine Rolle. Als ich Kinobetreiberin war, bekam ich ständig Werbung zu Sitz- und Soundsystemen, die ein ultimativ immersives Kinoerlebnis versprachen. Der Slogan von IMAX ist beispielsweise: “The World’s Most Immersive Movie Experience.” Begründet wird das mit 3D-Sound, der großen, gekrümmten Leinwand, die das gesamte Blickfeld ausfüllt, sowie einem fein aufgelösten, “realistischeren” Bild.
Der Begriff Immersion ist also schon seit Längerem ziemlich technologielastig. Die Frage dahinter war jedoch stets: Wie kann ich ein (bereits bestehendes) Medium durch bestimmte Technologien so erweitern, dass das Erlebnis für mein Publikum immersiver wird?
Was medienspezifisches Erzählen mit Immersion zu tun hat
Virtual Reality setzt wie Film (hier wie da gibt es natürlich Ausnahmen!) stark auf die Annäherung von virtuellen Welten an die physischen Gegebenheiten der realen Welt, um die Wahrnehmung “auszutricksen” und die erlebte Welt glaubhaft zu machen. Das bedeutet nicht, dass die Darstellung realistisch oder gar naturalistisch ist, sondern, dass zum Beispiel die Größen- und Lichtverhältnisse, Geschwindigkeiten, Bewegungsarten, Oberflächenstrukturen usw. kopiert werden. Dass VR fotorealistische 3D-Welten möglich macht, ist wohl auch der Grund dafür, dass es so schnell zum Inbegriff von Immersion werden konnte und jetzt als Paradebeispiel für immersives Storytelling herhalten muss, obwohl es einen bedeutenden Unterschied zwischen “Immersion” und “immersivem Erzählen” gibt.
Erst durch Eigenschaften, durch die sie sich von der wirklichen Welt unterscheiden, haben Medien spezifische Erzählmittel hervorgebracht. Diese erzählerischen Mittel, sei es in Literatur, Theater, Film oder Game, müssen wir erst erlernen, haben dieses angelernte Wissen aber mit der Zeit so verinnerlicht, dass sie uns nicht daran hindern, in eine Geschichte einzutauchen. Im Gegenteil: sie fügen der Geschichte emotionale Ebenen hinzu, die uns das Eintauchen erleichtern. Wenn wir mit den Funktionen von Schnitten im Film vertraut sind, dann verstehen wir intuitiv, ob zwischen zwei Schnitten viel oder wenig Zeit vergangen ist, ob es sich um einen Traum, eine Rückblende oder einfach die nächste Szene handelt usw. Auch wenn wir die Regeln dafür meist nicht benennen können: als regelmäßige Filmschauer kennen wir sie in- und auswendig. Dadurch können Medien Geschichten komprimiert und aufs Wesentliche konzentriert erzählen und dennoch zwischen den Zeilen ganz viel mittransportieren. Das entscheidet mit darüber, wie spannend wir eine Geschichte finden – ein wesentliches Element von Immersion.
Warum haben Film und VR weniger gemeinsam, als man denkt?
Es gibt also für jedes Medium Erzählmittel, die speziell für dieses Medium entwickelt und über die Zeit als (Seh-)Gewohnheiten naturalisiert wurden. Dabei beeinflussen sich verschiedene Medien immer auch gegenseitig. Ein Beispiel aus dem Film: nachdem die Großaufnahme durch neue, bessere Objektive zu Beginn des 20. Jahrhunderts möglich wurde, übernahm sie bald die Funktion, Emotionen im Gesicht der Schauspieler*innen sichtbar zu machen. Dadurch veränderte sich die Art des Schauspiels – wo früher wie im Theater große Bewegungen nötig waren, um Emotionen zu vermitteln, reichte jetzt ein Zucken der Mundwinkel oder das Senken der Augenlider. Das Stilmittel wurde zunächst sehr bewusst eingesetzt und signalisierte einen wichtigen Moment innerhalb der Story. Heute wird die Großaufnahme von Gesichtern immer häufiger verwendet, damit die Emotionen auf den kleinen Bildschirmen von Handys und Tablets dauerhaft gut zu erkennen sind. Das bedeutet aber auch, dass Großaufnahmen in unserer Rezeption längst nicht mehr so bedeutungsgeladen sind, wie noch vor einigen Jahren.
VR wird oft als Erweiterung von Film in den dreidimensionalen Raum gedacht, aber in einer Virtual Reality Umgebung funktionieren viele der im Film etablierten Erzählmittel wie Kameraeinstellung, Kamerabewegung oder Schnitt überhaupt nicht. Der Grund dafür ist, dass der virtuelle Raum vom realen, nicht vom filmischen Raum her gedacht wird. Die Rezipient*innen sind nicht mehr involvierte Beobachter*innen des Geschehens, sondern übernehmen selbst eine Rolle darin – meist sogar die Hauptrolle. Weil Rezipient*innen plötzlich keine*n Stellvertreter*in in Form einer Filmfigur oder z.B. eines Avatars haben, sondern sich selbst durch den Raum bewegen, muss neu definiert werden, wie sich Körper und Medium zueinander verhalten.
Erzählt Virtual Reality denn nicht per se immersiv?
Wenn ich mir von einer Architektin mittels VR-Anwendung zeigen lasse, wie mein geplantes Haus später aussehen wird, dann ermöglicht mir VR, den Raum virtuell zu erkunden und ihn dadurch auf einer anderen Ebene zu erfassen, als wenn ich (als Ungeübte*r) ein Modell vor mir habe. Das Gefühl, diesen Raum aus unterschiedlichen Perspektiven erkunden und dadurch informierte Entscheidungen treffen zu können, ist durchaus immersiv. Aber: hier gibt es weder eine Geschichte, noch den Anspruch, eine zu erzählen.
Immersives Storytelling entsteht erst, wenn Technologie und Storytelling ineinandergreifen und sich gegenseitig unterstützen. Die Technologie stellt zunächst einmal nur den Rezeptionsrahmen, erzählt selbst aber keine Geschichte. Tatsächlich stellt Virtual Reality Storyteller vor riesige Herausforderungen, die heute oft nur gelöst werden können, indem man die Möglichkeiten der Technologie künstlich reduziert. Nicht wenige VR-Anwendungen sind letzten Endes einfach 360° Videos, in denen sich Rezipient*innen nicht frei bewegen und auf die sie auch keinen Einfluss nehmen können. Der Grund dafür sind fehlende medienspezifische Erzählmittel, die sich erst noch entwickeln müssen. Insofern würde ich VR aus Storytellingperspektive heute als eines der am wenigsten immersiven Medien bezeichnen.
Vor welche Herausforderungen stellt uns Virtual Reality beim Erzählen?
Grund dafür ist, dass die große Kunst beim Storytelling ist, zahlreiche Entscheidungen darüber zu treffen, was und wie erzählt wird, bis am Ende eine stimmige Geschichte steht. Das merke ich zum Beispiel immer wieder, wenn ich in Workshops anderen dabei helfe, eine Geschichte aus dem eigenen Leben zu erzählen. Viele Teilnehmende meinen am Anfang, nichts zu erzählen zu haben. Gelingt es ihnen aber, ein paar wesentliche Fragen zu beantworten, merken sie plötzlich, dass sie doch etwas zu erzählen haben.
Wo beginnt die Geschichte, wo hört sie auf? Was ist wichtig und was lasse ich weg? Was passiert in welcher Reihenfolge? Auf welche Details lenke ich die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen, damit sie sich die Zusammenhänge erschließen können? Aus wessen Perspektive erzähle ich und wer ist noch an der Geschichte beteiligt?
Das sind Standardfragen, die ich jedes Mal beantworten muss, wenn ich eine Geschichte erzählen möchte.
Nun muss ich bei einer VR-Anwendung das Storytelling so denken, dass Nutzer*innen sich – mal mehr, mal weniger frei – in einer virtuellen Umgebung bewegen und mit dieser interagieren können. Und plötzlich funktioniert der etablierte Fragekatalog nicht mehr, weil ich nicht weiß, welche der angelegten Elemente die Nutzer*innen sich erschließen, und welche sie vielleicht gar nicht wahrnehmen.
Es gibt eine Anekdote zur VR-Anwendung “Thief in the Shadows”, die im Herr-der-Ringe-Universum spielt. Als Nutzer*in kann ich dort in die Rolle von Bilbo Beutlin schlüpfen, als er dem Drachen Smaug zum ersten Mal begegnet. In der Höhle von Smaug gibt es aber so vieles zu entdecken, dass ein Großteil der Testnutzer*innen Smaug gar nicht wahrgenommen hat. Hier war das Problem nicht die Immersion selbst – im Gegenteil, die Nutzer*innen waren absolut versunken in die Erkundung der Schätze um sie herum – sondern, dass die Erzählung aus dem Fokus geriet. Für VR erzählen bedeutet daher entweder, Strategien zu entwickeln, wie ich die Wahrnehmung auf bestimmte Elemente lenken kann (zum Beispiel durch 3D-Sounddesign), oder die Erzählwelt sehr viel offener zu gestalten, was aber auch bedeutet, dass ich nicht eine, sondern eine Vielzahl an möglichen Geschichten gleichzeitig entwickeln muss.
Immersives Storytelling mit VR ist heute noch mehr eine Idee als schon Realität, auf jeden Fall aber ein spannendes Experimentierfeld für neue Erzählformen, in dem sich auch auf Seite der Rezipient*innen erst noch Seh- und andere Wahrnehmungsgewohnheiten etablieren müssen.
Was Virtual Reality vom Audiowalk lernen kann
VR-Anwendungen gehen oft vom Film aus, obwohl die beiden Medien nur wenige Erzählmittel teilen. Das liegt unter anderem daran, dass Filme noch immer als das dominierende audiovisuelle Medium gelten und VR-Projekte häufig von Filmschaffenden begleitet und umgesetzt werden. VR-Erlebnisse werden auf Filmmessen an Akteur*innen aus der Filmbranche gepitcht und auf Filmfestivals gezeigt. Das erklärt nicht nur die Nähe zwischen Film und VR, sondern auch, warum die meisten VR-Erlebnisse zwar faszinierende Spezialeffekte, aber kein überzeugendes Storytelling bieten können.
Dabei gibt es längst ein Medium, dass sich auf räumliches Erzählen spezialisiert hat: den Audiowalk. Anstelle einer virtuellen Welt tritt beim Audiowalk zwar die reale Welt, doch die Herausforderunge sind ähnlich: Wie navigiere ich in einer 3D-Umgebung, ohne dass die Navigation zu viel Aufmerksamkeit auf sich zieht und dadurch die Immersion zerstört? Wie lenke ich innerhalb dieser 3D-Welt die Aufmerksamkeit auf bestimmte Details, die dadurch erst ihre Funktion innerhalb der Geschichte erfüllen können? Wie nutze ich Embodiment als eigenständiges Erzählmittel? Was muss ich beachten, damit sich die räumliche Erfahrung und die Geschichte synchronisieren, egal wie sich die Nutzer*innen im Raum bewegen? Wie denke ich die Nutzer*innen von Anfang an als Teil der Erfahrung mit, anstatt einen Raum zu schaffen, in den ich sie wie Fremdkörper hineinversetze?
Audiowalkmacher*innen haben längst Antworten auf all diese Fragen und können wertvolle Strategien an VR-Projekte weitergeben.
Zwei einfache Mittel: Embodiment und die Magie des Walkman Effekts
Durch Bewegung kann ich Embodiment erzeugen, ein unglaublich starkes Mittel, um die Immersion zu steigern. Bewegungen im Raum haben auf metaphorischer Ebene unterschiedliche Bedeutungen: es macht einen Unterschied, ob ich vorwärts gehe oder rückwärts, nach oben oder nach unten usw. und weil wir diese Konzepte in unserem Alltag stark als Metaphern für Zukunft und Vergangenheit, Erfolg und Misserfolg usw. etabliert haben, sorgt die Bewegung in Verbindung mit dem entsprechenden Storytelling für ein intuitives Verständnis der Situation.
Eine wichtige Entscheidung muss ich an einer Weggabelung treffen. So einfach das Konzept auch ist, es involviert – vor allem, wenn ich an dieser Stelle eine echte Entscheidung der Nutzer*innen zulasse. Dabei ist entscheidend, dass ich als Audiowalk-Hörer*in die Umgebung zwar selbst und im eigenen Tempo erkunden, die Geschichte aber nur an Stellen beeinflussen kann, in denen dies aus dramaturgischer Sicht sinnvoll ist. Es gibt zum Beispiel in fast jeder Geschichte eine Stelle, in der wir der Hauptfigur zurufen möchten: “Tu das nicht!” oder in der wir das Bedürfnis haben, zwei Figuren miteinander bekannt zu machen, weil sie jeweils ein wichtiges Puzzleteil entdeckt haben, es ohne den*die andere*n aber nicht deuten können. Das sind Momente, in denen wir gern in die Handlung eingreifen würden, obwohl wir wissen, dass am Ende alles seinen Grund hat (und sei es nur, die Spannung zu steigern). Beim immersiven Storytelling können wir solche Eingriffe erlauben – müssen aber immer abwägen, ob die Story das aushalten kann und die Rezipient*innen tatsächlich etwas davon haben.
Ein weiterer wichtiger Punkt für mehr Immersion ist die zeitliche und räumliche Synchronisation zwischen Story, eigener Bewegung und virtueller oder realer Umgebung. Diese Synchronisation ist beim Audiowalk vergleichbar mit dem Moment, in dem ich über Kopfhörer Musik höre, während ich auf den Bus warte, und sich plötzlich alle Bewegungen (meine eigene, aber auch die um mich herum) auf den Rhythmus der Musik einzustimmen scheinen. Dieser Effekt hat sogar einen Namen: man nennt ihn den Walkman-Effekt und laut einer Studie des Sozialwissenschaftlers Shuhei Hosokawa macht er Hörer*innen zufriedener und ausgeglichener, weil sie während des Hörens ein gesteigertes Gefühl von Kontrolle und Autonomie haben.
Dieses Gefühl von Kontrolle und Autonomie macht die Immersion wertvoll für die Nutzer*innen und schenkt ihnen Gelassenheit gegenüber der Tatsache, dass in der Erzählwelt Regeln gelten, an die sie sich halten müssen, damit die Geschichte funktioniert.
Unterschiede zwischen Audiowalk und Virtual Reality
Ein Hauptunterschied zu VR ist beim Audiowalk natürlich, dass ich ganz ohne ressourcenaufwändige Technologie beim Erzählen auf alle “Features” der echten Welt zurückgreifen kann, die sich die Hörer*innen mittels ihrer fünf Sinne erschließen. Der selektiven Wahrnehmung (der auch der Walkman-Effekt seine Superpower verdankt) sei Dank, kann ich dabei verschiedene Fährten auslegen und Hörer*innen suchen sich intuitiv diejenige aus, die zu ihrer aktuellen Situation passt. VR lässt weniger Platz für den Zufall und muss daher noch stringenter geplant und gebaut sein – dafür kann ich Elemente bis ins kleinste Detail zur Geschichte passend gestalten, beispielsweise das Wetter oder die Tageszeit. Das sind Parameter, an die sich ein Audiowalk allenfalls dynamisch anpassen kann – es sei denn, er fordert von vorneherein, dass man ihn nur bei Nacht oder bei Regen hört. Die möglichen Sinneswahrnehmungen werden bei VR allerdings noch eine ganze Weile weniger komplex sein als in der wirklichen Welt, wo ein Regenschauer die Atmosphäre und den Geruch eines Ortes komplett verändert.
Beim Audiowalk kehrt sich die Definition von Immersion gewissermaßen um: statt einen virtuellen Raum zu erzeugen, in dem ich vergessen kann, dass er virtuell ist, deute ich einen realen Raum durch eine Geschichte so um, dass die Hörer*innen – nun ja, eben nicht vergessen, dass er real ist, sondern – sich eine neue, fiktionale Ebene erschließen können. Es entsteht eine Art Parallelwelt, in der sie zur Hauptfigur eines Abenteuers werden. Insofern sind Audiowalks am Ende Augmented Reality für die Ohren – aber das ist eine andere Geschichte.